Ein Gespräch zwischen der Sammlung Goetz und dem Künstler über tägliche Motivation und Inspiration
Was ist Deine tägliche Motivation, Jochen Kuhn?
Das Irritierende an der Frage ist, dass sie überhaupt gestellt werden will.
Die Triebfeder war über Jahrzehnte intakt, sie fuhr über die Blätter, mal sanft, mal kratzend, mal zeichnend, mal schreibend - aber immer in Bewegung. Leben und Schaffen waren eins. Klar gab es Tage und Wochen des Zweifels und des Zauderns - aber unter der Oberfläche arbeitete der Motor unverdrossen. Das tägliche Tun und Lassen formte das Selbst. Dieses Selbst war sozusagen die Verkörperung einer dauernden Bezogenheit auf bevorstehende Resonanz. Das Selbst war nicht allein, sondern immer schon verbunden mit Anderen.
Durch die Bezogenheit auf künftige Resonanz erhalten Leben und Werke Sinn. Etwas bekommt Sinn, indem es über sich hinausweist auf einen weiteren Zusammenhang. Scheint etwas (ein Mensch, ein Wort, eine Geste, ein Zeichen, ein Leben) keinen Zusammenhang zu haben, so entsteht das Gefühl von Sinnlosigkeit, von sinnlosem Herumhängen.
Ein gesundes, normales Sein ist täglich motiviert durch Hunger und Durst, nicht nur nach physischer Nahrung, sondern auch nach sozialer. Der Mensch ist sein eigenes Projekt und ein soziales Projektil - ein nach vorn geworfenes Wesen, das mit Zielen rechnet und von dem Andere sich zuweilen getroffen zeigen. So erfährt es Erfolg, Misserfolg, Zuwendung, Ablehnung etc. als Wirkung seiner eigenen Lebendigkeit.
Nun schalte ich das Radio ein: Todeszahlen; Savonarola ruft: "totale Quarantäne!"; wegschließen, einschließen, abschließen, schließen, dicht machen, aufhören, absagen, beenden. Ach, könnte man das Atmen verbieten! Ausgerufen wird der Friedhof als Hort vollkommener Sicherheit.
Massenhaftes Wegsperren wird von Forschern und Ministern als Beitrag zur kollektiven Hygiene willkommen geheißen. Suggeriert wird eine Welt ohne Viren. Der Staat und seine Quarantänestationen zeigen sich gezwungen, die Rolle eines weltweiten Immunsystems zu übernehmen. Und wer da lamentiert, kommt auf den Pranger für ignorante Gottesleugner. Wer sagt: "es gibt auch andere Zahlen", wird auf die Betroffenheitsparty der Meinungs- und Rechtschaffenden nicht mehr eingeladen. Haben die Definitionsmächtigen noch Angst vor dem Virus - oder ist es schon Lust am Predigen des memento mori? Ist es schon Neurosen-Gewinn? Ist es schon Bedeutungsgewinn am Pathos der Apokalypse?
In den Supermärkten die Vermummten - rasch noch letzte Lebensmittel raffend. Neben den zunehmend spürbaren Hassbereitschaften wirken die demonstrativen Freundlichkeiten - durch aufgerissene Augen und das Hervorkehren der Lachfalten oberhalb der Masken - aufgesetzt. Alles moribunde Gefährder. Alles potenziell giftige Virenschleudern. Der Mensch ist dem Menschen ein Infektionsherd. Ich schau dir in die Augen, Kleines, und denke: heute schon desinfiziert? Selbst Freunde wollen nicht mehr zu Tisch eingeladen sein - sie fürchten den Atem.
Da ist also dieses projektive, stimulierende Band zu Anderen weitestgehend durchschnitten.
Nun sollen es die Geräte richten. Da sitzen wir dann vor Mattscheiben, heben die Hand, wenn wir etwas sagen wollen; deuten Pixel im Gesicht, um ein Lächeln zu erhaschen; und haben schon wieder die Worte verloren im Knacken und Häckseln der Tonübertragung. Und wir sollen die Amputationen „digitale Kompetenz“ nennen. Wir sollen mit dem Motto „Besser als Nichts“ unserer Umsiedlung in die Cloud zustimmen. Homeoffice in der Wolke, ein Eldorado für Misanthropen - die Wohnzelle im virtuellen Raum. Dazu die Pizza-Schachtel - gebracht vom suizidalen Lieferanten, der es wagt, sich dir zu nähern.
Und was da die tägliche Motivation sei?
Wenn jeder Ausflug ins soziale Leben von der Polizei abgefangen und mit Geldstrafen belegt werden kann - was könnte da motivierender sein als die Trägheit? Endlich hat meine Faulheit, die ich nun Entschleunigung nenne, das Gütesiegel „Beitrag zur Weltrettung“ erhalten. Trägheit war immer die Feindin der Bewegung, der Aufbrüche, der schöpferischen Anstrengung - nun wird sie als Rettungsdienst begrüßt. So schlafe ich zwei Stunden weiter und pflanze Telefon und Bildschirm neben die Kaffeemaschine. War mir der Bademantel nicht schon immer näher als der Arbeitsrock? Der Rückzug in die Klausur als humanistisches Engagement. Digitales Biedermeier.
So erklärt sich auch, warum Viele diese Formen der computergeschützten Innerlichkeit genießen: endlich ist man den Stress mit den lästigen Leuten los, diese erzwungenen Höflichkeiten, diese anstrengenden Smalltalks, diese Verlegenheiten in der Leibhaftigkeit, diese aufgenötigten Korrektheiten von morgens bis abends - endlich nur noch kurze Telefonate und dann 'ne SMS. Hieß „Wir schaffen das“ eben noch Willkommenskultur, nun heißt es Social Distancing.
Wenn nur nicht diese schlummernde Gewissheit wäre, dass der Boden unter den Quarantänestationen auf Papiergeld gebaut ist. Hört man nicht das permanente Rattern der Geldpressen? Spürt man nicht das Schwanken der Quarantänewelt auf den locker sitzenden Scheinen? Schaut man seinen Kindern und Enkeln nicht mit schlechtem Gewissen in die Augen, weil sie bald zur Kasse gebeten werden? Und nach den Viren das Klima?
Woher nimmst Du in diesen Zeiten Deine Inspiration?
Gute Frage. Inspiration - wo doch das Atmen (spirare) unter Todeshauch-Verdacht steht?
Versuche inspiriert aufzuräumen. Ist das Depot in meinem Atelier nicht eigentlich eine Zumutung für Kinder und Enkel? Woher sollen sie die Keller zum Lagern nehmen? Weniger wäre mehr - der alte Spruch als Wegschmeiß-Appell.
Da entdecke ich alte Sachen und freue mich: die sind eigentlich gar nicht so schlecht! Die halten sich! Gut, dass ich die aufbewahrt habe! Ach und dieses Bild: da war ich im 4. Semester. Mein Gott, das wunderbare Studentenleben: täglicher Aufbruch, dauerndes Bezogensein auf kommende Resonanzen, dauernde Balz. Und heute muss ich auch noch StudierEndeLeben sagen.
Ausstellungsvorhaben: abgesagt. Kinoabende: abgesagt. Festivals: abgesagt. Alles ins Down gelockt. Da steht man dann mit seiner Inspiration vor leergefegten Sälen. Waren unsere Darbietungen vielleicht immer schon verzichtbar?
(Du kannst ja deinen Film „ins Netz stellen“, heißt es - dieses „Ins-Netz-Stellen“-Augenwischerei unter Hungerkünstlern. Soweit ich hörte, erscheinen auf YouTube pro Sekunde 90 Stunden Material - oder waren es noch mehr?)
Dann vertagen wir doch die Inspiration: auf nächsten Monat, auf nächsten Frühling, nächsten Sommer, dann kommt ein neues Virus - dann geht es wieder in die keimfreie Dunkelkammer - vertagen wir sie also aufs kommende Jahr - und glauben an den jüngsten Impftag.
Woran arbeitest Du gerade?
Wie gesagt: aufräumen, sortieren, sich sorgen um das Entsorgen.
Was dabei am besten gelingt: das Verdrängen und Aufschieben. So liegt das meiste noch immer da, stehen die Sachen noch unangerührt im Regal. Und wider aller besseren Vorsätze, kaufe ich wieder Bücher.
Arbeite weiter an der Filmakademie. Die Studenten erscheinen im Schachbrettmuster auf dem Bildschirm. Wie gesagt: wir machen das Beste draus, schauen Filme, Bilder und diskutieren mit Hilfe der Mikrofone.
Eine weitere, nicht zu unterschätzende Arbeit besteht in der inneren Vorbereitung auf meinen Abschied von der Filmakademie im Sommer 2021. 30 Jahre, 3000 Studenten, ach ja, es soll ja StudierEnde heißen: passendes Motto für mich. Auch das ist Arbeit: sich eine neue Sprachmode aufzwingen, sich immer im Denkfluss stören zu lassen, nur um der neuen Obrigkeit zu zeigen, dass man gehorche.
Und im Hinterkopf braut sich vielleicht ein kleines neues Filmprojekt zusammen. Sammle Textbausteine, Fotos dazu. Hoffe, bis Spätsommer ein Atelier in Hamburg, wohin ich zurückziehe, zu finden. Ein neues Atelier kann die Kraft haben, die alten, hemmenden Fragen - wozu noch? wieso? für wen? - zu stillen.